„Verwurzelt sein – Neue Wege gehen“. Naturtherapie und Sinnerfahrung im Klinikalltag
Für Therapiesituationen scheint das ungeschriebene Gesetz zu gelten, dass der Rahmen einer „Sitzung“ immer gleichbleiben muss, damit sich Patient*innen sicher fühlen und ohne Ablenkung auf ihre Themen konzentrieren können. Warum es sich dennoch lohnt, die gewohnten vier Wände hin und wieder zu verlassen, zeigen unsere Erfahrungen in der achtsamkeitsbasierten Naturtherapie. „Achtsamkeit ist dabei die Kunst, in der Gegenwart und in wachem Kontakt mit der Umgebung und sich selbst zu sein. Diese Haltung erlaubt uns, die Natur in Ruhe zu betrachten und der Wirkung, die sie auf uns hat, nachzuspüren. Je mehr wir die Natur auf uns wirken lassen, umso achtsamer werden wir.“ (Huppertz & Schatanek, 2015).
Naturtherapie - Unmittelbares Erleben
Wenn Patient*innen allein in der Natur unterwegs sind, denken Sie häufig über Probleme nach, grübeln über Vergangenes oder planen die Zukunft. Sie sind in ihren Konzepten verstrickt, nehmen die Naturschönheiten am Wegesrand nicht mehr wahr und verpassen dabei die Gegenwart. Sind sie joggend unterwegs, ist die Natur oft nur Kulisse und die Pulsuhr wichtiger als die Umgebung. Patient*innen setzen sich auch in der Natur häufig, wie im Alltag, unter Leistungsdruck.
Wenn wir als Gruppe oder im Einzel-Setting in die Natur gehen, legen wir keine langen Wegstrecken zurück, da wir achtsam unterwegs sind und dem „Hamsterrad“ entkommen wollen. Die Natur wird als Erfahrungsraum genutzt, so als gingen wir auf Entdeckungstour und würden „den Planeten zum ersten Mal betreten“.
Die Umgebung wird auf achtsame Weise unter die Lupe genommen. Dazu dienen Plätze am See, Bach oder im Wald mit verschiedenen Baumgruppen, Vegetationen und Landschaftsbildern. Patient*innen üben an den Naturschauplätzen, die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen und zu erkunden. Naturtherapie ist erlebnis-, ressourcen- und handlungsorientiert. Patient*innen üben, im Erleben zu sein, die umgebende Natur, ebenso wie sich selbst wahrzunehmen.
Die Wahrnehmungsfähigkeit kann dadurch vertieft und die Natur differenzierter erlebt werden.
Perspektivenwechsel
Ungewohnte Achtsamkeitsübungen im Freien brechen mit Gewohnheiten und schaffen neue Erfahrungsmöglichkeiten. Auf vielfältige Art können Patient*innen Neues erleben, in dem sie z.B. gestalterisch Naturmaterialen in Szene setzen oder spielerisch ein Waldgelände explorieren. Naturgegenstände, die sonst gar nicht oder nur beiläufig auffallen, können dabei die Aufmerksamkeit in den Bann ziehen.
Auch Themen wie „Ressourcen aufdecken“, „Akzeptanz üben“, „Loslassen“, „Verwurzelt sein“ oder „neue Wege gehen“ können eine Rolle spielen. Durch die Fokussierung auf eine Achtsamkeitsübung verankern sich Patient*innen mehr im Hier und Jetzt, das Gedankenkarussell wird unterbrochen, der Ausstieg aus dem „Autopiloten“ ist möglich. Die Natur kann als Ort fungieren, Einstellungen zu erweitern und Altvertrautes aus neuem Blickwinkel zu sehen. Bei einer Waldmeditation die Natur mit Hören, Riechen und Spüren wahrzunehmen, ist für Patient*innen oft ein besonderes Erlebnis. Meditationen in der Natur werden häufig als intensiver empfunden als im geschlossenen Raum: die Würze der Waldluft, ein kühlender Wind oder Sonnenstrahlen auf der Haut, dazu ein Naturkonzert von Vogelstimmen und das Rauschen der Blätter in den Baumkronen. Durch regelmäßiges Innehalten, schon auf dem Weg zum erwählten Übungsplatz, helfen Atemübungen und Gehmeditationen, „Schritt für Schritt“ in die Entschleunigung zu kommen. Manche Patient*innen suchen die Plätze, an denen die Übungen durchgeführt wurden, in ihrer Freizeit erneut auf, vertiefen das Gelernte und spüren nochmals nach.
Flexibilität
Da wir bei jeder Witterung ins Freie gehen, ist Flexibilität angesagt. So kann aus einer Gehmeditation bei plötzlich einsetzendem Regen auch eine Meditation unter dem Regenschirm werden. Die Achtsamkeit besteht dann beispielsweise im Wahrnehmen von Regentropfen auf dem Schirm, den Blättern oder der Wasseroberfläche eines Sees. Patient*innen müssen im Sinne der Selbstfürsorge darauf achten, dass die Kleidung der Jahreszeit und Temperatur angepasst ist, damit sie die Übungen in einer entspannten Art durchführen und einen bestmöglichen Nutzen daraus ziehen können. Wenn Patient*innen offen sind für diese Erfahrungserweiterung, nehmen sie die Natur schon nach wenigen Therapiestunden achtsamer und differenzierter wahr. Sie hören den zuvor kaum beachteten Bach in all seinen Klangfacetten, sie sehen die Farben der Jahreszeiten. Sogar in der vermeintlich grauen Jahreszeit im November können zahlreiche bunte Farben entdeckt werden, die sich während einer Therapiestunde in Form einer Pflanzen- und Blumencollage zusammenfinden.
Symbol- und Metaphernreichtum
Ressourcen können in der Natur mittels Symbolen und Metaphern aufgedeckt werden. Grenzen der Belastbarkeit, z.B. an natürlichen Grenzen wie einer undurchdringlichen Brombeerhecke, laden zur Erprobung ein. Wachstum und Entwicklung finden erfahrungsgemäß immer an den Grenzen unserer „Komfortzone“ statt. Diese Komfortzone müssen Patient*innen verlassen, wenn sie die Natur betreten und sich für neue Erfahrungen öffnen. Hierbei gibt es viele Möglichkeiten des Explorierens und des Ausprobierens. Aktiv muss eine Auswahl getroffen, müssen Entscheidungen gefällt werden. Dabei ist es unerlässlich, sich mit den eigenen Vorlieben auseinanderzusetzen.
„Wer sich mit der Natur beschäftigt, versteht auch alles andere besser“
(Albert Einstein)
Patient*innen fühlen sich nach der Therapie im Grünen meist entspannter, geerdet, der Kopf ist klarer und mehr Wohlbefinden spürbar. Eine Patientin meinte: „Achtsam in der Natur sein, bedeutet Leben“. Therapie unter freiem Himmel gibt Patient*innen den Raum für die unmittelbare Begegnung mit der Fülle des Lebendigen. Der Alltag kann für eine Weile in die Ferne rücken, die digitale Welt hat hier keinen Platz, ebenso wenig Erwartungen und Bewertungen. Die Natur fordert nichts. Durch sinnliches Naturerleben kommen leibliche und seelische Prozesse in Gang, der Zugang zu Emotionen wird erleichtert. Freude und Genuss beim Anblick der Natur werden wieder möglich.
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