Krankheitsbilder

Resilienz im Arztberuf – Studie der Universität Heidelberg

„Der Arztberuf gehört zu den besonders gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten. Dieses Paradox ist seit langem bekannt und zwischenzeitlich auch wissenschaftlich untermauert.“ Die Universität Heidelberg hat eine Interviewstudie „Resilienz im Arztberuf“ mit 200 gesunden und kranken Ärzten durchgeführt. Die Oberbergkliniken haben diese Studie durch die Vermittlung von Ärzten, die zu Patienten wurden, unterstützt. Die Hintergründe, warum gerade Ärzte häufig psychisch erkranken und aufschlussreiche Erkenntnisse zu den „Gesundheit gestaltenden Faktoren“ sind von zentraler Bedeutung. Lesen Sie die Zusammenfassung der Studie, in der arztspezifische Resilienzprozesse dargestellt wurden:

Projekttitel: Resilienz im Arztberuf

Laufzeit: Januar 2010 bis Juni 2011
Institution: Universitätsklinikum Heidelberg, Institut für Medizinische Psychologie, Sektion Medizinische Organisationspsychologie
Projektleitung: Dr. Julika Zwack, Prof. Jochen Schweitzer

 

Hintergrund

Der Arztberuf gehört zu den besonders gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten. Dieses Paradox ist seit langem bekannt und zwischenzeitlich auch wissenschaftlich untermauert. Die Interviewstudie „Resilienz im Arztberuf“ schließt eine zu den epidemiologischen Erkenntnissen zum Thema Ärztegesundheit komplementäre Forschungslücke: 

Ärzte sind Experten in der Erbringung hochanspruchsvoller Dienstleistungen unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Sie sind damit nicht nur belastet und psychophysisch vulnerabel, sondern auch kompetente Bewältiger fachlicher, psychophysischer, sozialer und organisationaler Herausforderungen. Dieser Aspekt, die Resilienz im Arztberuf, erscheint in der wissenschaftlichen Debatte wie der öffentlichen Diskussion bislang unterbeleuchtet, ist jedoch von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis zukünftiger und aktueller Berufsvertreter. 


Ziele des Projektes

I. Hauptstudie
Im Mittelpunkt stand die Herausarbeitung von wirksamen Strategien im Umgang mit den spezifischen Widrigkeiten, Belastungen und Herausforderungen des Arztberufs. In 200 Interviews mit unterschiedlich berufserfahrenen MedizinerInnen verschiedener Fachrichtungen und Arbeitssettings (Krankenhaus vs. Niederlassung) wurden ärztliche Resilienzprozesse anhand folgender Fragestellungen konkretisiert:

1. Wie lassen sich Gesundheit, Sinnerleben, Freude und Wirksamkeitserfahrung im Arztberuf auch unter widrigen Arbeitsbedingungen erhalten? Was tun bzw. lassen resiliente Ärzte, im Arbeitskontext, aber auch darüber hinaus?

2. Wie gelingt es erfolgreichen (d.h. biopsychosozial gesunden) Ärzten, Arbeit, Familie und eigene Bedürfnisse zu vereinen?

II. Katamnesestudie
In einer gesonderten Teilstudie befragten wir 32 von Burnout, Abhängigkeitserkrankungen oder Depression betroffene Ärzte (ehemalige Patienten der Oberbergkliniken) nach subjektiven Erfolgsfaktoren für ihren Genesungsprozess. Ziel war es, die vorliegenden epidemiologischen Daten durch eine prozessorientierte Perspektive zu ergänzen und aus der Perspektive ärztlicher Betroffener prototypische Wege in und aus Burnout, Abhängigkeitserkrankungen und Sucht zu beschreiben.


Methoden

Haupt- und Katamnesestudie basieren auf halbstrukturierten qualitativen Interviews mit Ärzten. Die Auswertung erfolgte gemäß der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring entlang obiger Fragestellungen. In der Hauptstudie füllten die Teilnehmer noch zusätzlich das Maslach Burnout Inventar (MBI) aus. 

Auf Basis der in Haupt- und Katamnesestudie gewonnenen Erkenntnisse wird ein Ratgeber für Ärzte und ein Präventionsprogramm zur Resilienzförderung entwickelt.

I. Hauptstudie
Insgesamt wurden 30 Kategorien identifiziert, die sich den drei übergeordneten Feldern „Allgemeine Kraft-, Sinn- und Freudequellen“, „Konkrete Handlungen und Praktiken“ und „Nützliche Einstellungen und Grundhaltungen“ zuordnen lassen (vgl. Tabelle). Die Prozentangaben beziehen sich auf die relative Häufigkeit, mit der die jeweilige Resilienzstrategie über alle Interviews hinweg genannt wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass die relativen Häufigkeiten der Spontannennungen nichts über die relative Wertigkeit der jeweiligen Resilienzstrategien aussagt.

Tabelle: Überblick über die Resilienz-Kategorien und die relative Häufigkeit ihrer Nennung

II. Katamnesestudie
6 bis 36 Monate nach dem stationären Klinikaufenthalt in den Oberbergkliniken erlebten sich 12 Befragte als genesen und voll leistungsfähig, 4 Ärzte als weiterhin stark belastet und 16 Personen beschrieben deutliche Fortschritte bei gleichzeitig anhaltendem Ringen um neue Denk- und Handlungsgewohnheiten.

Motive und Auslöser für den stationären Aufenthalt
Für die Mehrheit der Befragten (N=24) war eine deutlich spürbare, drohende oder bereits eintretende psychophysische Dekompensation ausschlaggebend für die Hilfesuche. Für drei substanzabhängige Ärzte ging diese einher mit einem nicht mehr negierbaren Kontrollverlust. Neben massiven psychophysischen Symptomen sind kritische soziale Lebensereignisse und Traumatisierungen auslösendes Moment für den stationären Aufenthalt.

Welche Belastungsfaktoren spielen eine Rolle?
An allererster Stelle rangierte eine hohe zeitliche Beanspruchung (N=13), ausgelöst durch knappe Personaldecken, häufige Dienste, aber auch eigene Ansprüche an Erreichbarkeit und Präsenz. Vor allem niedergelassene Ärzte berichten über starke Beanspruchungen durch bürokratische Anforderungen und Vorgaben sowie finanzielle Belastungen (N=9), die im spannungsreichen Widerspruch zum eigenen professionellen Ethos stehen. Doppelbelastungen (N=12), die sich aus dem Versuch ergeben, Familie und Beruf zu vereinen, werden - auf Dauer gestellt - ebenfalls zu auslösenden Bedingungen für Symptomentwicklungen. Drei Ärzte beschrieben traumatische Erfahrungen im Rahmen ihrer ärztlichen Tätigkeit als auslösende Bedingungen für die Dekompensation.

Was bringt Ärzte dazu, ihre körperlichen wie emotionalen Grenzen chronisch zu überschreiten?
Von 30 der 32 Gesprächspartner hervorgehoben wurde ein biographisch verankertes Leistungsskript, in dem durch eigene Anstrengungen und Leistungen Zugehörigkeit und Anerkennung erworben wird. Handlungsleitend ist dabei häufig auch der Wunsch, es „sich selbst und anderen zu beweisen“ und dadurch Gefühle der Unzulänglichkeit zu überwinden.

Was hilft? (I) - Subjektive Wirkprozesse der stationären Psychotherapie
Besonders häufig (N=32) nennen die Ärzte eine Aufwertung des Stellenwerts persönlicher Selbstfürsorge als bedeutsame Lernerfahrung. Diese untergliedert sich in die zwei Unteraspekte Abgrenzung/“Nein sagen“ (N=9) und achtsame Selbstwahrnehmung (N=23). Mehr auf körperliche, geistige und soziale Grundbedürfnisse zu achten, wird gleichzeitig als Zuwachs an Selbstakzeptanz erlebt. Es geht um „gesunden Egoismus“, „das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen“ und darum, „das eigene Überleben an die erste Stelle zu setzen.“ Zu den heilsamen Lernerfahrungen gehört weiter ein wachsender Stellenwert basaler Entspannungs- und Genussfähigkeit.

Lessons learned – Ratschläge an nachfolgende Medizinergenerationen
Wir baten die befragten Ärzte um eine Zusammenfassung ihrer persönlichen „lessons learned“ in Form eines Ratschlags an die nachfolgenden Medizinergenerationen. Acht Schwerpunkte kristallisierten sich heraus: 1) Aufrechterhaltung und Pflege von privaten Interessen, 2) Selbstfürsorge und Achtsamkeit: eigene Grenzen wahrnehmen und schützen, 3) Kollegialen Austausch suchen und pflegen, 4) regelmäßig Erwartungen und Prioritäten prüfen, 5) frühe Auseinandersetzung mit eigenen biographischen Anfälligkeiten, 6) Hilfe suchen und annehmen, 7) finanzielle Risiken minimieren und 8) bewusste Nähe-Distanz Regulation im Patientenkontakt.


Theoretische Einordnung und Implikationen für die Präventionsarbeit

Die theoretische Einordnung der Ergebnisse erfolgt vor dem Hintergrund der Konsistenztheorie von Grawe (2004), der Burnout-Theorie von Burisch (1994, 2009), des ressourcenorientierten Burnout-Modells von Buchwald & Hobfoll (2004), des Modells der Gratifikationskrise von Siegrist (z.B. 2008) sowie der Theorie maladaptiver Schemata von Young et al. (2005). Aus der Integration der empirischen Erkenntnisse mit den genannten Theorieansätzen ergeben sich folgende Metaziele für die Präventionsarbeit:

1. Seelische Erkrankungen sind dann wahrscheinlich, wenn wichtige motivatonale Ziele bzw. Bedürfnisse dauerhaft frustriert werden. Ansatzpunkt eines wirksamen Resilienzförderungsprogramms muss deshalb nicht nur eine akute Stressbewältigung, sondern vor allem eine langfristige Verbesserung der Bedürfnisbilanz sein.

2. Ein wichtiger Schwerpunkt resilienzfördernder Maßnahmen sollte die Arbeit an (dysfunktionalen) biografischen Schemata und damit verbundenen Vermeidungszielen sein.

3. Resilienzfördernde Maßnahmen sollten über die Dynamik von Ressourcen-Abwärts- und -Aufwärtsspiralen informieren, diese individuell identifizieren und modifizieren.

4. Resilienzförderung muss die inneren und äußeren Freiheitsgrade der Teilnehmenden berücksichtigen und möglichst erweitern. Dies schafft einerseits direkte Kontrollerlebnisse und andererseits die Voraussetzungen für eine verbesserte Bedürfnisbefriedigung und nachfolgende Ressourcen-Aufwärtsspiralen.


Die Operationalisierung der genannten Ziele erfolgt im Rahmen eines multisystemischen Präventionsansatzes in dem Inkongruenzreduktion und eine funktionale Ausgestaltung motivationaler Ziele in folgenden Subsystemen adressiert wird:

1. Der Arzt in der Arzt-Patienten-Interaktion

2. Der Arzt als Kollege, Mitarbeiter oder Vorgesetzter im Klinik- oder Praxis-System

3. Der Arzt im Kontext gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen und Vorgaben 

4. Der Arzt in seiner außerberuflichen Lebenswelt (Familie, Freunde, Interessensfelder)

5. Der Arzt in Beziehung zu sich selbst (Selbstwahrnehmung & Selbstkenntnis)

In insgesamt acht Modulen werden unter Heranziehung entsprechender Originalaussagen aus den Interviews gesunderhaltende Prozesse illustriert, eigene Ressourcen und Investititionsentscheidungen in den unterschiedlichen Subsystemen reflektiert sowie alternative Verhaltensziele entwickelt und evaluiert.

Nicht mehr Bestandteil des laufenden Projekts aber im Anschluss angestrebt ist eine quasi-experimentelle  Implementation und Längsschnittevaluation des Resilienzprogramms. Hierzu sollen die Ärzte, die das Programm durchlaufen haben über einen Fünfjahreszeitraum qualitativ und quantitativ zu Belastungserleben, psychischem und physischem Befinden, Lebensqualität und der Nützlichkeit der vermittelten Strategien im Arbeitsalltag des Berufseinstiegs befragt und mit Nicht-Teilnehmern verglichen werden.


Veröffentlichungen in Vorbereitung

1) Resilienz im Arztberuf. Salutogenetischen Praktiken und Einstellungsmuster erfahrener Ärzte. Zur Veröffentlichung geplant in der Zeitschrift Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie (Thieme Verlag)

2) Pathogenetische und salutogenetische Aspekte der Ärztegesundheit – eine qualitative Katamnese betroffener Ärzte. Zur Veröffentlichung geplant in der Zeitschrift Psychiatrische Praxis (Thieme Verlag)

3) Understanding Physician Resilience: a qualitative analysis of physicians` wellbeing and coping strategies. Zur Veröffentlichung geplant in Psychosomatic Medicine  (Lippincott Williams & Wilkins)

Für Ratgeber und Präventionsprogramm streben wir eine Veröffentlichung im Deutschen Ärzteverlag an.

Neben den Hauptveröffentlichungen sind kürzere Übersichtsartikel im Deutschen Ärzteblatt und der Deutschen Medizinischen Wochenschrift geplant. Ebenfalls in Planung sind fachspezifische Veröffentlichungen zu den Substichproben der Chirurgen und Allgemeinärzte in jeweils einschlägigen Publikationsorganen. 

Kontaktdaten
Dr. Julika Zwack 
Institut für Medizinische Psychologie
Bergheimerstr. 20
69115 Heidelberg
Tel.: 06221-568149
julika.zwack(at)med.uni-heidelberg(dot)de