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Lebensabschnitt ins Ungewisse – Psychotherapeutische Hilfe im Alter

Zeit unseres Lebens bewegt sich der Alltag in festen Bahnen. Wir genießen unsere Kindheit im Elternhaus und lernen Selbstständigkeit. Bildung ermöglicht uns eine berufliche Tätigkeit und garantiert unsere existenzielle Versorgung. Familie und Freunde setzen soziale Leitplanken und steigern unser Wohlbefinden. Was passiert, wenn diese soliden Parameter unseres Alltags nach und nach verschwinden? Wenn die Kinder das Haus verlassen? Wenn das Berufsleben hinter uns liegt? Oder unsere Gesundheit die Ausübung gewohnter Tätigkeiten nicht mehr zulässt? Auch im Alter sind wir nicht vor Sinnkrisen geschützt und können therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Bilanz ziehen

Der Volksmund kennt das Phänomen der „Midlife-Crisis“. In der Mitte seines Lebens zieht der Mensch Bilanz und sinniert über seine (bisherigen) Ziele, seine Träume und seine Möglichkeiten. Oft führt diese Betrachtung zu keinem umfänglich positiven Ergebnis, sodass der Betroffene sich in einer „Krise“ empfindet. Was könnte besser laufen? Was hätte ich anders machen können? Ist meine eigene oder die Zukunft meiner Familie gesichert? In dieser Situation hat der Mensch die Möglichkeit, Umstände, die ihn im Leben unglücklich machen, zu ändern. Bestenfalls ist er gesund und steht mitten im Berufsleben. 

 

Wie gehen wir aber damit um, wenn wir im Alter Bilanz ziehen und nicht mehr die Möglichkeit haben, auf verpasste Chancen zu reagieren? Wenn wir uns all diese Fragen mit dem Wissen stellen, diese Dinge nicht mehr ändern zu können? In einer Lebensphase, in der wir den Moment genießen sollten, auf den wir hingearbeitet und -gelebt haben. Der Alltag gibt uns weniger Aufgaben, und das Gefühl, gebraucht zu werden, verschwindet häufig. Damit ist eine völlig neue Situation gegenüber den Lebensphasen gegeben, die hinter uns liegen. Nicht jeder findet selbst einen Ausweg aus einer Sinnkrise im Alter. Für viele kann es sinnvoll sein, in den späten Lebensjahren therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. 

Steigende Anerkennung der Psychotherapie

In der Vergangenheit wurden psychotherapeutische Behandlungen für Menschen im Alter kritisch gesehen. Selbst Sigmund Freud bemerkte zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei älteren Menschen sehr pessimistisch: „Bei Personen nahe an oder über 50 Jahre pflegt einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen, auf welche die Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und andererseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlung ins Unabsehbare verlängert.“ Die Meinung Freuds manifestierte sich lange in Fachkreisen der Psychoanalyse. Erst im 21. Jahrhundert erfährt die Anerkennung der Psychotherapie für ältere Menschen einen signifikanten Aufschwung. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Bevölkerung generell älter wird und sich in einer schneller drehenden, digitalisierten Welt mit immer mehr Einflüssen konfrontiert sieht. 

 

Die klassischen Belastungen älterer Menschen bleiben weiterhin der Verlust von Familie und Freunden durch Tod, eigene Erkrankungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen, traumatische Erlebnisse oder eine eingeschränkte Mobilität. Nicht wenige reagieren darauf mit Depressionen, Schlafstörungen, Suizidalität, somatoforme Störungen oder Angststörungen. Der Bedarf an therapeutischer Hilfe ist steigend, jedoch ist der Anteil der über 60-Jährigen, der diese Hilfe in Anspruch nimmt, immer noch gering. 

Stigmatisierung ab- und Vernetzung aufbauen

Woran liegt das? Zum einen muss eine psychotherapeutische Behandlung weiterhin Aufklärung bei Menschen dieser Altersgruppe erfahren, um den Makel des „Schwächezeigens“ abzustreifen. Die Stigmatisierung, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, ist bei älteren Menschen deutlich stärker als bei jüngeren. Auch das Altersgefälle von (jungen) Therapeuten und (alten) Patienten führt häufig zu Vorurteilen von älteren Menschen gegenüber einer Psychotherapie. Zum anderen muss die Zusammenarbeit zwischen Psychotherapie und Hausarzt intensiviert werden. Für ältere Menschen ist der Hausarzt die erste und wichtigste Anlaufstelle bei Erkrankungen aller Art. Dieser muss psychische Symptome, wie beispielsweise Depressionen, erkennen und eine Weiterbehandlung durch einen Therapeuten veranlassen, insofern die Symptome keine altersangemessenen Ausmaße aufweisen.

Lernen zu reden

Insbesondere Männer älteren Jahrgangs haben Schwierigkeiten, sich im Rahmen einer Gesprächstherapie zu öffnen. Hier sehen Fachkreise die Notwendigkeit weiterer Forschungen. Um der vorherrschenden Stigmatisierung entgegenzutreten, sollten konservative Therapieziele ausgerufen werden: Förderung von Selbstständigkeit, Verbesserung der sozialen Fähigkeiten, Auseinandersetzung mit Sterben und Tod oder der achtsame Umgang mit dem eigenen Körper bringen schon beachtliche Fortschritte. Auch müsse die fachliche Qualifikation der behandelnden Psychotherapeuten in diesem neuen Bereich stetig weiterentwickelt werden. Derzeit werden in der klassischen Ausbildung kaum Besonderheiten bezüglich der Behandlung älterer Menschen vermittelt. Symposien zu diesem Fachgebiet sind stetig ausgebucht und zeigen den wachsenden Bedarf an spezifischem Wissen.

Verbesserte Lebensqualität

Eine immer älter werdende Gesellschaft und die zunehmende Fülle an äußeren Einflüssen bedingen, dass Sinnkrisen nicht mehr ausschließlich Menschen mittleren Alters erfassen. Die Zahl an Menschen, die im hohen Alter psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, steigt. Der Abbau von Vorurteilen gegenüber der Therapie sowie eine bessere Vernetzung zur klassischen Medizin tragen zur besseren Behandlung von psychischen Erkrankungen bei. Dabei sollen sicherlich nicht alle Sinnfragen beantwortet werden, aber die Lebensqualität kann und sollte sukzessive verbessert werden.

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