Fachklinik Rhein-Jura Psychotherapien

Psychotherapie: Couch mit Nebenwirkungen

Auch eine Psychotherapie kann schaden, warnen Experten. Nur wollen die Therapeuten davon oft nichts wissen. Es ging aufwärts. Jahrelang war die Patientin depressiv gewesen, in einer Psychotherapie hatte sie neues Selbstbewusstsein geschöpft. Die 38-Jährige ging Wandern, Skifahren und lernte neue Leute kennen. Mit ihrer Ehe aber ging es bergab. Ihr Mann kannte sie nur als unsichere, schüchterne Frau, die keine Wünsche äußerte. Seit 15 Jahren waren sie verheiratet; jetzt trennten sie sich. Doch ihre neue Lebensfreude währte nicht lange. Ihr Mann hatte schon bald eine neue Freundin, sie dagegen verlor Freunde und Bekannte, litt unter der Einsamkeit. Die Depression kam zurück. Sie begann, an Suizid zu denken. Nach kurzem Höhenflug schien ausgerechnet die Therapie sie noch tiefer in die Misere gestürzt zu haben.

Psychotherapie und warum sie auch unerwünschte Nebenwirkungen haben kann

Während in der Medizin Nebenwirkungen von Therapien und Medikamenten erfasst werden, gibt es keine vergleichbaren Ansätze in der Psychotherapie. “Lange hat man überhaupt nicht darauf geachtet, dass eine Psychotherapie auch unerwünschte Wirkungen haben kann”, sagt Eva-Lotta Brakemeier, Psychotherapeutin an der Uniklinik Freiburg. Sie hat die Patientin in einer ambulanten Therapie begleitet. “Aber wie jedes Medikament kann auch eine Therapie Nebenwirkungen haben.” Einen Beipackzettel, der vor “Risiken und Nebenwirkungen” warnt, gibt es jedoch nicht.

“Seit Jahren mache ich auf das Problem aufmerksam. Bisher hat sich aber wenig getan”, sagt Jürgen Margraf, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). “Immer noch ist die Meinung verbreitet, dass eine Therapie nur Gutes tut.” Dass viele Therapeuten sich ungern mit dem Thema beschäftigen, liege auch daran, dass ihnen Nebenwirkungen einer Therapie angekreidet werden könnten, meint Brakemeier: “Das ist mit Ängsten verbunden.” Es ist schließlich ihr eigenes Tun, das unerwünschte Wirkung hat. Die wenigen Studien, die negative Auswirkungen bisher erfasst haben, liefern ein unscharfes Bild: Das Befinden von 5 bis 15 Prozent der Patienten verschlechtere sich während einer Psychotherapie, bei 10 bis 50 Prozent verbessere es sich nicht. “Oft wird nicht einmal zwischen diesen beiden Fällen unterschieden. So erhält man erst gar keine Zahlen für Verschlechterungen”, sagt Margraf.

Uniklinik Freiburg will Nebenwirkungen von Psychotherapie erfassen

Das will Eva-Lotta Brakemeier nun ändern. Sie hat einen Fragebogen entworfen, mit dem Nebenwirkungen stationärer Therapien erfasst werden können. An der Uniklinik Freiburg haben ihn bereits mehr als 40 Patienten ausgefüllt, die wegen einer chronischen schweren Depression eine spezielle Verhaltenstherapie gemacht hatten. Die Ergebnisse hat Brakemeier in der Fachzeitschrift Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis veröffentlicht. “Die allermeisten, 92 Prozent, berichten von Nebenwirkungen”, sagt die Psychologin. Mehr als die Hälfte gaben an, dass sich ihr Zustand während der Therapie verschlechtert habe. Und bei 40 bis 60 Prozent führte die Behandlung zu schwerwiegenden Veränderungen, die Patienten trennten sich beispielsweise vom Partner oder wechselten den Arbeitsplatz. “Das hatte aber nichts damit zu tun, ob die Therapie wirkte”, betont Brakemeier. Im Gegenteil: “Nebenwirkungen gehören oft dazu.” Wenn nach jahrelanger Depression Dinge zur Sprache kämen, die ein Patient womöglich noch nie jemandem anvertraut habe, dann sei es ganz natürlich, dass es ihm zunächst schlechter gehe. Das kann dramatisch sein: “Eine meiner Patientinnen konnte kaum schlafen, sie wurde von Albträumen gequält, tagsüber litt sie unter Flashbacks. Sie sagte während dieser Tage, sie wünsche sich nur noch, tot zu sein.” Auch für die Psychotherapeutin selbst war das keine einfache Situation. “Am Anfang dachte ich in solchen Fällen ‚Was richte ich da an?’ Inzwischen fällt es ihr leichter, ruhig zu bleiben und den Patienten Sicherheit und Zuversicht zu geben. Sie geht jetzt an ihre Arbeit eher wie eine Medizinerin heran. “Man muss Kosten und Nutzen abwägen”, erklärt Brakemeier. “Genau wie bei Medikamenten.” Nach der Therapie sagte ihre Patientin: “Die ersten Wochen waren unglaublich hart und schwer; aber ich denke, dass ich da durch musste, damit es mir jetzt so gut geht wie noch nie zuvor im Leben.” Da sich manche Nebenwirkungen eben nicht vermeiden ließen, müssten Patienten am Anfang unbedingt darüber aufgeklärt werden, fordert die Psychologin: “Das ist fast ein Kunstfehler, wenn man das nicht tut.” Doch oft geschehe dies nicht, denn viele Therapeuten befürchteten, ohnehin ängstliche Patienten zu verschrecken. Dabei kann der ehrliche Hinweis auf mögliche Zwischentiefs in der Therapie die Arbeitsgrundlage stärken. “Es hilft zu verhindern, dass jemand die Therapie vorschnell  abbricht, wenn Schwierigkeiten aufkommen.”

Das größte Problem falsch ausgeführter Psychotherapie: Abhängigkeit des Patienten

Jürgen Margraf hat sogar – nur halb im Scherz – Beipackzettel für Psychotherapien entworfen. Darüber hinaus fordert der DGP-Präsident ein Meldesystem für Nebenwirkungen: “Fluggesellschaften müssen ja auch melden, wenn es im Cockpit komisch riecht oder irgendwas klemmt. Die Sicherheit in der Luftfahrt hat sich dadurch bemerkenswert verbessert.” Mit Hilfe einer breiten Datenbasis ließen sich wiederkehrende Muster erkennen und so Therapien verbessern. In vielen Fällen ist eine vorübergehende Verschlechterung ein normaler Effekt der Psychotherapie. Eine Therapie soll ja eben Veränderungen herbeiführen. Manchmal funktionieren dann eingeschliffene Beziehungen nicht mehr, wie bei der Patientin, die sich nach ihrer Therapie scheiden ließ, weil ihr Mann mit ihrem neuen Selbstbewusstsein nicht klarkam. “Da war die Beziehung ein aufrechterhaltender Faktor für die Depression gewesen”, sagt Brakemeier. Inzwischen ist die 38-Jährige vom Dorf mitten in die Stadt gezogen, hat sich einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Sie fühle sich jetzt jünger und lebendiger, sagt sie. Und sie hat einen neuen Mann kennengelernt. Einen, der mit ihrem Selbstbewusstsein klarkommt.

Aber so, wie auch ein Chirurg mitunter in das falsche Gewebe schneidet, kann auch ein Psychotherapeut echte Fehler machen. Ein Meldesystem sollte nicht nur unvermeidbare Nebenwirkungen, sondern auch die Folgen einer unprofessionellen Ausführung der Therapie erfassen, verlangt Jürgen Margraf, der auch Professor an der Ruhr-Universität Bochum ist. “Für extreme Vorfälle, also unethisches Verhalten wie sexuelle Übergriffe, gibt es inzwischen gute Anlaufstellen”, sagt er. “Aber gerade die am weitesten verbreiteten Probleme sind schwer zu erfassen. Deshalb werden sie unterschätzt.” Eines der größten Probleme sei es, dass Patienten in der Therapie unselbständig und abhängig würden. Margraf nennt das gern das “Woody-Allen-Syndrom”, nach dem amerikanischen Schauspieler (“Ich muss erst mal meinen Therapeuten fragen.”).

Psychotherapeuten, die eine solche Einstellung förderten, verhielten sich schlicht unethisch. “Man muss ganz klar mit dem Patienten besprechen, warum man was macht”, sagt der Psychologe. “Wir können den Leuten das Schwimmen beibringen. Schwimmen müssen sie selbst.”

Dazu muss man sie aber erstmal schwimmen lassen: Noch immer werden aber allzu häufig langwierige Behandlungen beantragt, obwohl es inzwischen gute Belege gebe, dass Kurztherapien in vielen Fällen sehr wirkungsvoll sind. “Wenn man länger rumtherapiert als nötig, macht das nicht selbständiger”, kritisiert Margraf. Zu oft bekämen die Patienten noch nicht einmal die Therapie, die für sie die beste wäre, klagt der Experte. Denn nicht jede Therapieform sei für alle psychischen Erkrankungen geeignet. Das geforderte Meldesystem könnte auch Erkenntnisse über eine der düstersten Nebenwirkungen der Psychotherapie zu Tage fördern: den Suizid. “Es kann passieren, dass jemand erst durch eine Therapie die Energie aufbringt, sich selbst zu töten”, sagt Margraf. “Dazu gibt es bisher aber nur anekdotische Hinweise.” Mancher Kollege glaube, man würde nur schlafende Hunde wecken, wenn man das Thema anspreche, sagt er. “Aber man sollte ernsthaft darüber reden, welche Gründe jemand sieht, sich das Leben zu nehmen, und nicht nur über das, was dagegen spricht.”

Aber auch aus weniger dramatischen Fällen lässt sich etwas lernen. Ein chronisch depressiver, schwer traumatisierter Patient, den Eva-Lotta Brakemeier behandelt hatte, wurde aus der stationären Therapie direkt in die Frührente entlassen. “Er war 20 Jahre lang depressiv gewesen. Wir waren uns mit dem Patienten einig, dass seine Arbeit ein entscheidender Grund und die aufrechterhaltende Bedingung für die Depression war und die Frührente deshalb die beste Lösung”, sagt Brakemeier. Doch zu Hause fiel der Patient in ein Loch. “Ich habe mich so nutzlos gefühlt, nicht mehr gebraucht und wie ein totaler Versager. Der Tag hatte keine Struktur mehr”, berichtete er. “Am Ende blieb ich fast immer im Bett liegen.” Im Rückblick meint Brakemeier, die Entscheidung sei grundsätzlich richtig gewesen. “Aber wir hätten zusehen sollen, dass er gleich einen 400-Euro-Job anfängt oder eine ehrenamtliche Arbeit.” Verschärft wurde das Problem dadurch, dass der Patient nicht nahtlos mit einer ambulanten Therapie weitermachen konnte, weil er auf einen Platz warten musste. “Diese Wartezeiten sind ein riesiges Problem. Oft machen sie den Erfolg einer stationären Therapie zunichte”, sagt Brakemeier. Sie hielt Kontakt zu dem Patienten und riet ihm, einen stationären Auffrischungskurs zu machen. Zusammen mit dem Sozialdienst fand er dann einen 400-Euro-Job. Inzwischen geht es ihm besser: “Ich kann meine neue Freiheit besser schätzen und genießen.”

Autor: Stefanie Schramm
Gesundheit & Ernährung: Couch mit Nebenwirkungen
Badische Zeitung v. 10.12.2012

 

 

https://www.badische-zeitung.de/couch-mit-nebenwirkungen

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