Die Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ ist die kontroverseste Produktion seit Jahren. Seitdem das Suizid-Drama im März auf Netflix gestartet ist, wird es heftig diskutiert und auch kritisiert. Prof. Dr. med. Mathias Berger, Wissenschaftlicher Beirat und Dr. phil. Christian Klesse, leitender Psychologischer Psychotherapeut an der Rhein-Jura Klinik – unsere Experten beziehen heute Stellung.
In „13 Reasons Why“, so heißt die Serie im Original, hinterlässt die verstorbene Hannah Baker eine Reihe von Kassetten, auf denen sie verschiedenen Personen die Gründe für ihren Suizid erklärt. Auf jeder einzelnen nimmt sich der Teenager einen ihrer Peiniger vor, die sie angeblich in den Tod getrieben haben. Von den Erwachsenen endgültig enttäuscht, bereitet Hannah mit Hilfe der Kassetten anschließend ihren postumen Rachefeldzug vor. Nach ihrem Tod wird sie ihre Mitschüler zwingen, sich mit ihren Anklagen auseinanderzusetzen.
Herr Berger und Herr Klesse, was denken Sie beide über die aktuelle Diskussion über die Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“?
Klesse: In der Debatte gibt es, soweit ich es überblicke, zwei grobe Stränge: Der eine sagt, die Serie greife bislang weitgehend tabuisierte Themen wie Mobbing, sexuelle, seelische oder körperliche Gewalt und Suizid auf und hole sie, eingebunden in eine glaubwürdige Handlung, aus der Versenkung eines Schweigens darüber. Der andere, eher von Psychologen und Psychiatern betriebene meint, diese Themen könnten zu ernstlichen seelischen Beeinträchtigungen führen bei psychisch instabilen Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch bei solchen Zuschauern, die die gleichen ungünstigen Erfahrungen gemacht haben wie die Protagonistin Hannah Baker und letztlich zur gleichen Lösung greifen, wie es diese getan hat: dem Suizid
Berger: Was mich besonders überrascht ist, dass „Tote Mädchen lügen nicht“ momentan die unter Jugendlichen am meisten gesehene Serie auf Netflix ist und Lehrer, Schulpsychologen, Eltern und andere Erwachsene anscheinend fast nie davon gehört haben. Ich finde, es sollte unbedingt mehr über diese und ähnliche Filme gesprochen werden.
Die Hauptdarstellerin der Serie wird sehr positiv dargestellt. Sie wirkt primär offen, selbstbewusst und cool. Ist das die richtige Art, Menschen vor einem Suizid abzuschrecken – wie es die Produzenten vorhatten? Oder verführt das – gerade genauso junge Mädchen – eher zur Nachahmung?
Berger: Seit der Veröffentlichung von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ im Jahr 1774 ist der Effekt bekannt: viele junge Männer eiferten dem Protagonisten nach und erschossen sich mit einer Pistole nachdem sie sich wie die Romanfigur gekleidet hatten. Seitdem wurde dasselbe Phänomen immer wieder beobachtet. Zum Beispiel auch nach dem Suizid des Bundesliga-Torhüters Robert Enke. Als er sich im Jahr 2009 an einem Bahnübergang das Leben nahm, schnellte die Zahl der Nachahmer in die Höhe. Suizide können also ansteckend wirken. Deshalb überrascht es mich, dass eine Serie wie „Tote Mädchen lügen nicht“ in dieser Art ausgestrahlt wird.
Ist es in Ihren Augen moralisch verwerflich, den Weg zum Selbstmord und den Suizid selbst so detailliert, anrührend und aus intensiver Nähe darzustellen wie in der Serie?
Klesse: Nun, die meisten Suizide stehen in Verbindung mit psychischen Störungen. Insbesondere bei Vorliegen einer Depression ist die Gefahr 30-mal höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Der Höhepunkt an Suizidversuchen liegt in einer Lebensspanne von 14 bis 24 Jahren. Wir können nun spekulieren, worunter Hannah litt und ob depressive Menschen die Hauptsehergruppe dieser Serie sind. Dann wäre es in der Tat problematisch. Über Moral und Schuld will ich angesichts dieser Zusammenhänge jedoch nicht sprechen.
Die Serie macht deutlich, welche Erfahrungen vor großer Hilflosigkeit bis hin zu Suizidalität liegen können; aber sie darf auf keinen Fall als Gebrauchsanweisung dafür gesehen werden, wie man sich umbringen kann und danach alle Probleme los ist. Wir können aus der Serie auch den Schluss ziehen: Selbstmord ist schrecklich – und alles andere als eine Lösung, die irgendetwas ungeschehen oder besser macht. Denn es mag sein, dass Hannah sich zwar gerächt hat an allen, die ihr Pein und Frustration angetan haben; aber mitbekommen wird sie es nicht, ob diese Rache fruchtbar war, sie hat nichts mehr davon. Und so ist es mit Suizid: Es ist die Entscheidung, die, wenn sie leider zu einem tragischen Ausgang führt, nie mehr rückgängig gemacht werden kann. Dies zu thematisieren hat nichts mit Moral zu tun.
Die Macher der Serie argumentieren, dass es gefährlicher sei, gar nichtüber Selbstmord zu sprechen als ihn zum Thema zu machen. Wie sehen Sie das?
Klesse: Natürlich ist es notwendig, Tabus wie beispielsweise Suizid, Mobbing oder Vergewaltigung und ihre Auswirkungen gesellschaftlich und in Familien zu diskutieren, um all das zu verhüten. Filme und Serien können und sollen dazu Anstoß geben. Die Frage ist jedoch, ob dies aus dem Blickwinkel eines Mädchens angestoßen werden kann, das zweifellos Enttäuschendes, Entmutigendes, Verletzendes, Widriges und Widerwärtiges erlebt hat, dann jedoch nur noch die Option sieht, sich selbst umzubringen und über den eigenen Tod hinaus oder mit ihm einen Rache- und Vernichtungsfeldzug zu führen, um die, die ihm geschadet haben, gleichsam zu bestrafen. Suizid wirkt hier wie eine Trennung mit dem Fallbeil, um den Hinterbliebenen die ganze eigene Ohnmacht aufzuladen; etwas Konstruktives hat er nicht. Ob also eine 13-teilige Serie sinnvoll ist (eine weitere Staffel ist ja auch noch geplant), um Suizidalität, ihre Bedingungen und ihre Folgen so ausweg- und alternativlos zu reflektieren, sei dahingestellt.
Berger: Tabus wie Depressivität und Lebensmüdigkeit zu enttabuisieren, indem man darüber spricht ist wichtig und auch ein großes Thema, mit dem wir uns zum Beispiel beim „Bündnis gegen Depression“ intensiv beschäftigen. Wir haben dazu im Jahr 2016 den ersten Schüler-Kongress in Freiburg ins Leben gerufen. Das Thema waren psychische Erkrankungen bei Jugendlichen, die Referenten Schüler gemeinsam mit Profis. Knapp 600 Jugendliche aus Stadt und Umland referierten, hörten zu und stellten Fragen. Jugendliche sollten hier vor allem lernen, wie man über psychische Probleme spricht und damit umgeht, wenn man selbst oder ein Mitschüler davon betroffen ist. In der Netflix-Serie finden Hannah, ihre Mitschüler, Eltern und Lehrer keinerlei Möglichkeit, richtig mit Problemen umzugehen und Lösungen zu finden. Der einzige Ausweg, so scheint es in der Serie, ist für Hannah am Ende der Suizid.
Die letzte Kassette in Folge 13 widmet sich dem Vertrauenslehrer. Statt auf die recht unverschlüsselt geäußerten Suizidabsichten von Hannah näher einzugehen, scheint er zu versuchen, sie vor allem davon abzuhalten, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Was hat diese Darstellung mit dem realen Leben zu tun? Sollte man den Zuschauern nicht eher andere Handlungsalternativen zeigen?
Berger: Ich selbst habe die Reaktionen des Vertrauenslehrers in der Serie eher als hilflos empfunden, da Hannah in meinen Augen seine Hilfsangebote nicht annimmt. Mit einem Mikrofon im Rucksack besucht sie ihn. Sie geht also schon davon aus, dass auch er sich an ihr schuldig machen, die Situation enttäuschend ablaufen und der Vertrauenslehrer der Inhalt der 13. Kassette sein wird. Das erlebe ich an der Serie besonders schlimm, dass der Eindruck erzeugt wird, auch von den erwachsenen Profis ist nichts Hilfreiches zu erwarten.
Klesse: Dass Institutionen Heikles wie sexuellen Missbrauch bemänteln und totschweigen, ist nicht neu. So hat das Fiktionale dieser Serie durchaus einen wahren Kern. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die relativ gut ausgebildeten Beratungslehrer an deutschen Schulen über Suiziddrohungen oder die Offenbarung, vergewaltigt worden zu sein, einfach hinweggehen, um das Ansehen der Schule oder was auch immer zu schützen. Suizidankündigungen sollte man auch im Kontext von Schule immer ernst nehmen und notwendige Zeit zur Verfügung stellen.
Weckt die Serie Ihrer Meinung nach Illusionen bei den Zuschauern?
Klesse: Von Illusionen würde ich nicht sprechen – und ich würde auch den Gehalt von „13 Reasons Why“ nicht auf den Suizid von Hannah eingeengt sehen wollen. Tatsächlich werden ja viele schwierige Themen berührt: Wie gehen wir miteinander um? Denken wir darüber nach, was wir bei anderen anrichten können? Wie sehr übernehmen wir Verantwortung für unser Verhalten? Wie gehen wir mit eigener Schuld um? Können wir uns, wenn uns etwas angetan wird, egal wie groß oder klein diese Verletzungen sind, angemessen wehren? Versteht uns jemand in unserem Leid? Durch die Masse an Kränkungen und Verletzungen, die Hannah erlebt hat und wie sie diese dann ihren Peinigern schonungslos vorhält, ist die Serie doch eher desillusionierend. Aber sie ist eben auch ein Spiegel dessen, was tagtäglich vorkommt. Denken Sie an die lebhafte Debatte über das Cyber-Mobbing.
Berger: Also was ich als sehr schwierig empfinde ist, dass die Serie nicht Bewältigungsmöglichkeiten für schlimme Situationen sondern zunehmend den starken Racheimpuls Hannahs, der am Ende ja auch funktioniert, in das Zentrum stellt. Ihre Mitschüler, Eltern und Lehrer bleiben völlig verunsichert und verstört zurück. Der eine bereitet offensichtlich einen Amoklauf vor, der andere greift zur Pistole und richtet sie gegen sich selbst, der dritte landet vermutlich im Gefängnis und so weiter. Das Elend setzt sich über ihren Tod hinaus fort. Problematisch ist in meinen Augen in der Serie, dass es der Protagonistin zu Lebzeiten nicht gelingt, für ihr Recht einzustehen und zum Beispiel potentielle Unterstützer – wie ihre Eltern, Freunde, Lehrer oder Therapeuten – für sich zu aktivieren,.
Man wird Serien wie „Tote Mädchen lügen nicht“ kaum verbieten können. Welche Tipps geben Sie Jugendlichen und Ihren Eltern dazu mit dem Thema Suizid umzugehen?
Berger: Psychisches Leid und insbesondere Suizidankündigungen sollten unbedingt ernstgenommen werden. Wichtig ist, dass Kindern und Jugendlichen immer die Möglichkeit gegeben werden soll, über Probleme und Tabuthemen zu sprechen und für ihre Rechte einzustehen. Lehrer und Eltern sollten ein Klima des Vertrauens und Zuhörens schaffen, Sorgen und Nöte der Kinder und Jugendlichen sollten angenommen und ihnen Wege gezeigt werden, wie sie damit umgehen können und aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus kommen. Da diese Serie unter Jugendlichen hohe Popularität genießt, sollten sich die Erwachsenen unbedingt auch damit beschäftigen und die Heranwachsenden damit nicht alleine lassen.
Klesse: Für Jugendliche ist die Gleichaltrigengruppe in aller Regel der wichtigste Ansprechpartner. Teils werden die Gleichaltrigen auch in Suizidphantasien mit eingebunden. Oft ist die Brisanz überhaupt nicht bewusst, wenn über Suizidgedanken oder -vorstellungen gesprochen wird. Eltern demgegenüber erfahren meist nichts von Suizidgedanken, die unter Jugendlichen relativ verbreitet und glücklicherweise vorübergehend sind, außer natürlich, sie sind in eine Depression eingebunden. Es ist gar nicht ungewöhnlich, wenn sich Unfälle beim Spielen im Nachhinein schon bei Kindern als Suizidversuche entpuppen; auch Risikoverhalten bei Jugendlichen kann zumindest ein In-Kauf-Nehmen des Todes darstellen. Jugendliche, die lebensmüde sind, benötigen genauso therapeutische Hilfe und möglicherweise auch den Schutz eines Klinikaufenthalts wie Erwachsene. Wenn Suizidgedanken drängend sind, immer wieder auftreten, auch konkreter werden, würde ich Jugendlichen dazu raten, das dringend anzusprechen – bei Lehrern, Erwachsenen, denen sie vertrauen, beim Hausarzt und bei den Eltern, wenn es die Beziehung hergibt. Suizidgefährdung ist bei Kindern und Jugendlichen nicht ohne weiteres erkennbar. Es gibt Kriterien wie Verschlechterungen in den Schulleistungen oder Schuleschwänzen, Antriebsmangel, äußerliche Vernachlässigung wie Mangelernährung, Fressanfälle oder auch wegfallende Körperhygiene; auch der soziale Rückzug und Wortkargheit gehören dazu. Manchmal sind es auch Bauchbeschwerden oder plötzliche Asthmaanfälle, die sichtbar werden. Dies können Symptome einer Depression oder auch anderer Störungen sein und sollten, wenn sie länger anhalten, auch einmal eine Vorstellung beim Kinder- oder Hausarzt nach sich ziehen. Sie berechtigen jedoch nicht schon an sich zur Befürchtung, es könnte Suizidalität vorliegen. Generell empfehlen wir Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Krisen Kontakt zu professionellen Helfern aufzunehmen und die Situation zu schildern.
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