Die Rhein-Jura-Klinik ist ein Fachzentrum für Stressmedizin, psychosomatische Störungen und medizinische Psychiatrie. Für junge Erwachsene ab 18 Jahren bieten wir eine spezielle Therapie an. Dabei arbeiten unsere Patienten immer im Team mit ihren Therapeuten und Ärzten. Wenn Sie mehr über unser Angebot für junge Erwachsene erfahren wollen, informieren Sie sich auf unserer Homepage oder nehmen Sie Kontakt zu uns auf!
Junge Erwachsene – darum ist das Abnabeln von Eltern und Kindern so wichtig
Noch nie standen sich Kinder und Eltern so nahe wie heute. In Deutschland leben gegenwärtig etwa 4 von 10 jungen Erwachsenen bei ihren Eltern. Vor 40 Jahren waren es nur 2 von 10. Das heißt, seit 1980 hat sich die Zahl der zu Hause lebenden, volljährigen Kinder unter 25 verdoppelt. Wenn Eltern und Kinder sich in dieser engen Konstellation am wohlsten fühlen, ist doch alles bestens. Aber kann Selbstständigkeit ohne Eigenständigkeit gelingen? Die Verbindung halten und sich gleichzeitig lösen, ist eine schwierige Aufgabe. Wie das Abnabeln von Eltern und Kindern funktioniert und warum es so wichtig ist, beantwortet uns Prof. Dr. med. Martin Bohus.
Interview mit Prof. Dr. med. Martin Bohus, Wissenschaftlicher Direktor des Zentralinstitutes für Seelische Gesundheit in Mannheim und wissenschaftlicher Beirat der Rhein-Jura Klinik.
Jeder Mensch durchläuft in seinem Leben die Phase vom Kind zum Erwachsenen. Ablösung von „Kindheits-Ich“ und Abnabeln vom Elternhaus geschehen langsam und bringen manche Probleme mit sich. Warum ist dieser Schritt so wichtig für die Entwicklung junger Erwachsener?
Das Abnabeln vom Elternhaus ist ein sehr wichtiger Schritt in der Adoleszenz. Er dient jungen Erwachsenen dazu, sich neu zu orientieren und ihr Leben in einem sozialen Verbundsystem so zu entwickeln, dass ein gewisses Maß an Eigenständigkeit aber gleichzeitig an sozialer Eingebundenheit möglich ist.
Es beginnt zunächst einmal mit einer starken Orientierung auf Gleichaltrige. Die Peergroup (dt.: Gleichrangige) wird wichtiger als das Elternhaus. Jugendliche übernehmen Normen, Erlebnisstruktur und Gruppenregeln dieser Peergroup. Manchmal sind diese in Einklang mit dem Elternhaus – und manchmal stimmen sie nicht überein. Das kann zu Konflikten führen oder nicht.
Förderlich für die Entwicklung von jungen Menschen ist auf alle Fälle, wenn ein Kind es schafft, sich in einer Peergroup zu etablieren und zu verankern.
Wie lange hält diese Phase der Orientierung an der Peergroup an?
Meist am Ende der Schulzeit findet eine Rückorientierung statt. Aus der starken Peergroup heraus organisieren sich die jungen Erwachsenen dann eher in Lernstrukturen: sie gehen an die Uni oder beginnen eine Ausbildung. Zu dieser Zeit übernehmen sie auch größere Sozialnormen. Sie lernen beispielsweise regelmäßig aufzustehen, den Anweisungen des Professors/Ausbilders o. ä. zu folgen, oder zu pauken, obwohl sie es nicht wollen.
Die jungen Menschen lernen, eine ganze Reihe von Prozessen zu erfüllen, die nicht ihrer unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dienen. Dazu müssen sie sich ein Stück von ihrer Peergroup ablösen, die normalerweise unmittelbar auf die Bedürfnisbefriedigung zielt (Spaß haben). Junge Erwachsene müssen lernen, ihre Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben (= Bedürfnisaufschub), um sich auf ein größeres Ziel hin zu orientieren. Das erfordert einige emotionale Fertigkeiten.
In diesem Zusammenwirken entsteht so etwas wie das Bedürfnis nach einer Präzisierung und eigener Umsetzung von Werten.
Zusammenfassung:
- Abnabeln vom Elternhaus = geschieht immer über die starke Bindung zur Peergroup
Herausforderung: der junge Mensch muss eine Gruppe finden, die ihn mag und an der er sich orientieren kann.
Schwierigkeiten: jemand, der Schwierigkeiten hat, Vertrauen aufzubauen; jemand, der Mobbingerfahrungen hat; jemand, der sehr unsichere Bindungserfahrungen mit seinen Eltern gemacht hat; jemand, der hypersensitiv ist gegenüber Zurückweisungen – der wird Probleme haben, sich in einer Peergroup einzufinden. Jemand, der dort wiederum beispielsweise Mobbingerfahrungen macht, wird sich zurückziehen. Und so fehlt ihm eine ganz wesentliche Phase in seiner Adoleszenz.
An diesem Zeitpunkt ist eine der vielen Ursachen von Angsterkrankungen, depressiven Erkrankungen oder Störungen in der Adoleszenz gegeben. - Ablösung von der Peergroup = entsteht über die Einbindung in übergeordnete Sozialstrukturen, in denen Triebaufschub und zielgerichtetes Arbeiten gelernt und gefördert werden
Notwendig ist, dass der junge Mensch den Schritt macht aus der unmittelbaren Spaßbefriedigung und dem Sich-Wohlfühlen in einen vorübergehenden Prozess des Unwohlseins (morgens aufstehen, lernen usw.). Er muss lernen, Rollen einzunehmen und auszuhalten, obwohl es gar nicht seine sind. Dazu braucht es gewisse Fähigkeiten: Das eine ist die grobe Ahnung von den eigenen Werten und Gefühlen. Man macht etwas Unangenehmes nur, wenn man irgendwie das Gefühl hat, es rentiert sich für einen. Das ist ein klassisches Phänomen: man erträgt das kurzfristige Unwohlsein, um langfristig den Trieb zu befriedigen.
Wenn man aber gar keine Werte und Ziele hat als junger Mensch, und keine Utopien, dann ist es sehr schwierig, sich Situationen auszusetzen, die Unwohlsein hervorrufen.
Gibt es Besonderheiten unserer Zeit, die das Erwachsenwerden erschweren?
Grundsätzlich war und ist es in allen Gesellschaften schwierig für Jugendliche, sich konkrete Ziele und Utopien zu machen. In unserer Zeit ist es auch schwierig, oder vielleicht sogar schwieriger, weil in hohem Tempo ein massiver Wandel passiert und es immer weniger verlässliche, tragfähige Strukturen gibt.
Viele junge Menschen fangen ein Studium an, obwohl sie gar nicht wissen, was sich dahinter verbirgt. Die Master-/Bachelor-Studiengänge vermitteln häufig diffuse Kompetenzen, aus denen sich schwer Berufsbilder ableiten lassen, die mit Emotionen, Wünschen und Hoffnungen verbunden werden können. So fällt es den jungen Menschen oft schwer, zu verstehen, warum sie dieses Studium überhaupt machen sollen. Das verkompliziert es für viele, konkrete, mit Bildern gefüllte Wunschvorstellungen zu entwickeln.
Aus dieser Ursache heraus können motivationale Störungen und subdepressive Syndrome entstehen. Die jungen Menschen hängen rum und suchen permanent nach schnellen kurzfristigen Ablenkungen. Dafür ist das Internet zum Beispiel gut. Das ist viel unterhaltsamer als der langfristige Lern- und Arbeitsprozess. Dazu kommt ein gewisser Wohlstand, den wir in Deutschland haben. Sehr viele Mittelschichtskinder wachsen auf mit einem Gefühl der permanenten Versorgtheit. Die klassische menschliche Triebkraft, die Unsicherheit über die (finanzielle) Zukunft – die ein starker Antrieb dafür ist, etwas aus sich zu machen – ist nicht mehr vorhanden. Das führt zu einer Art Wohlstandsverwahrlosung: der zentrale Teil, aus Angst vor nicht ausreichendem finanziellen Einkommen und die Sehnsucht, Sicherheit zu schaffen, fällt weg.
Die zentrale Herausforderung der Menschheit, die Ressourcenknappheit, hat sich zu einer Gesellschaft gewandelt, die künstlich Bedürfnisse hochschraubt, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Wie können Eltern ihre Kinder auf ein selbstständiges Leben vorbereiten und sie unterstützend begleiten ohne zu viel einzugreifen?
Wenn Eltern in der früheren Phase (13 – 16 Jahre) merken, dass ihr Kind keinen Zugang zu einer Peergroup bekommt, könnte das ein Warnsignal sein. Die Eltern sollen die Augen aufmachen und sich vergegenwärtigen, dass ein Abnabeln von Kindern und Eltern normal ist und dass es auch normal ist, dass die Kinder ihre Clique wichtiger finden als die Eltern.
Wenn das nicht passiert, sollten sie tatsächlich das Gespräch suchen zu ihrem Kind und herausfinden, an was es hakt. Das sind häufig kleine Sachen wie Smalltalk lernen, Kritik einstecken können oder ein Wagnis machen. Das Kind kann sich ganz gezielt eine Clique suchen, die vielleicht nicht sofort auf dem Schulhof stattfindet. Zum Beispiel ein Sportverein oder ein Jugendverband. Die Eltern sollen ihr Kind ermuntern, die Wahlmöglichkeiten zu nutzen und irgendwo in einen Cliquen-Kreis reinzukommen.
Denn Kinder müssen lernen, dass sie auch außerhalb ihrer Familie Bedeutung haben.
Wenn Eltern merken, dass ihr Kind den normalen Schritt in die Ausbildung/Universität nicht schafft, sollten sie es dringend dazu bringen, sich zu überlegen, was ihm wichtig ist und was aus ihm werden soll. Wenn das unklar ist, sollten die Eltern das Kind dabei unterstützen, reale Erfahrungen mit dem Leben zu machen. Statt es also dazu zu bringen, ein Lernstudium anzufangen, was ihm gar keinen Spaß macht, sollte man seinem Kind lieber zu einem Auslandsjahr oder einem sozialen Jahr raten. Dort findet der Kontakt mit sozialer Wirklichkeit statt, also mit Leiden von anderen, mit Wirklichkeit von anderen.
Der junge Mensch lernt, dass die eigene Person und das eigene Handeln tatsächlich wirksam sind und Bedeutung haben. Das ist zentral.
Die meisten jungen Erwachsenen leiden unter dem Gefühl der Sinnlosigkeit und Beliebigkeit. Also was sie machen ist scheinbar völlig egal. Es dauert in unserer hochakademisierten Gesellschaft sehr lange, bis ein junger Mensch irgendwann einmal in einen gewissen Bereich kommt, in dem sein eigenes Handeln Bedeutung bekommt. Das ist aber die wichtigste Erfahrung.
Eltern sollten also ihren Ehrgeiz zurücknehmen. Es geht weniger um konkrete Abschlüsse, als vielmehr darum, Felder zu eröffnen, in denen junge Erwachsene erleben können, dass es von Bedeutung ist wie sie handeln und wie sie denken – für andere! Und das ist nicht der Ausbildungsbereich, sondern das ist meistens der soziale Bereich.
Die jungen Menschen müssen konkrete Erfahrungen von Wirksamkeit machen.
Dazu muss man sich natürlich auch ein bisschen trauen. Eltern können den Kindern da einen Stups geben. Zudem ist es auch sinnvoll, die Ressourcen zu gestalten. Zu viel finanzielle Unterstützung ist nicht unbedingt sinnvoll.
Es ist wichtig, dass junge Menschen lernen und merken, dass Ressourcenknappheit ein normaler Zustand ist.
Sie sollen erfahren, dass man was dafür tun muss, sein Geld zusammenzubekommen. Dass nicht jeder Wunsch sofort befriedigt wird, denn dann gibt es überhaupt keinen Grund mehr, sich anzustrengen und zu arbeiten. Das muss ein Mensch erst lernen.